Einige ethische Gedanken zur Synthetischen Biologie

Vom Homo faber zum Homo creator – oder doch nicht ?

Florianne Koechlin, GID Spezial Nr. 10, Dezember 2010

Im Mai 2010 geriet Craig Venter wieder einmal in die Schlagzeilen. „Und der Mensch erschuf Leben“ kommentierte der Economist Venters Versuch, mit seinem Team ein künstliches Bakterium zu erzeugen. Nach Ansicht des Economist hätten sie damit erneut den Rubikon überschritten.

„Leben zu erzeugen, ist das Privileg der Götter. Tief in der menschlichen Psyche, was auch immer die rationalen Plädoyers von Physik und Chemie sein mögen, existiert eine Empfindung, dass Biologie anders ist, mehr als nur die Summe von Atomen, die sich herumbewegen und miteinander reagieren, dass Leben irgendwie durchdrungen ist von einemheiligen Funken, einer vitalen Essenz. Es kann ein Schock sein, dass gewöhnliche Sterbliche nun künstliches Leben hergestellt haben.“(1)

Wir müssten uns darauf einstellen, dass in Zukunft neue Tiere und Pflanzen am Computer entworfen würden. Das Experiment sei bedeutender als die „Zündung der ersten Atombombe“. Die Herrschaft des Menschen über die Natur habe eine neue Stufe erreicht.

Extreme Gentechnik

Venters Team synthetisierte Chromosomen des Bakteriums Mycoplasma mycoides. Dabei handelt es sich um das Bakterium mit dem bis dato kleinsten bekannten Erbgut. Die Wissenschaftler kauften von einer Firma tausende DNA-Basensequenzen. Diese deckten das gesamte Genom von Mycoplasma mycoides ab. Venter und seine Kollegen setzten die Einzelbausteine korrekt zusammen und transferierten dieses neu zusammen gebaute Genom in ein anderes Bakterium, das Mycoplasma capricolum, dessen Genom sie zuvor entfernt hatten.

Doch hat Venters Team damit wirklich ein Lebewesen hergestellt? Das wurde von vielen bezweifelt, unter anderem von Martin Fussenegger, Professor für Synthetische Biologie an der ETH Zürich. In einem Brief an die Zeitschrift Nature, „Kein künstliches Leben“, vertritt er die Ansicht, dass das Team um Venter eine technische Meisterleitung vollbracht habe. Sie hätten aber eigentlich nur etablierte Technologien verwendet, indem sie all diese DNA-Sequenzen – die es auch in der Natur gibt – in der richtigen Reihenfolge zusammensetzten und in ein anderes Bakterium übertrugen. „Weil beim Venter-Papier konzeptionell nichts neu ist, geht es vor allem um eine ungeheure Fleißarbeit. Eigentlich ist es wie Stricken, jeder weiß wie es geht und jeder kann es auch, Venter hat nur einen Pullover in XXL-Grösse ohne Maschenfehler gestrickt. Das ist interessant. (...) Was man mit dem XXL-Pullover anfangen kann, ist bis jetzt nicht klar.“(2)

Es handelt sich also um eine Art „extremer Gentechnik“. Bereits vor Jahren hatte die kanadische Nichtregierungsorganisation ETC-Group das, was heute vielfach unter dem Label „Synthetische Biologie“ verhandelt wird, so bezeichnet.(3)

Was ist Synthetische Biologie?

Wie damals die Gentechnik wird auch die Synthetische Biologie mit großen Versprechen beworben. Für die nähere Zukunft könnten wir bessere Arzneimittel, weniger durstige Kulturpflanzen oder Öko-Benzin erwarten. Ganz zu Anfang der Debatte wurde mit Synthetischer Biologie die Schaffung von Leben verbunden: Mit Gentechnik werde Leben manipuliert. Mit Synthetischer Biologie werde Leben kreiert. Synthetische Biologie beinhalte den Übergang vom Homo faber zum Homo creator.(4) Heute sind die Exponenten der Synthetischen Biologie vorsichtiger. Sven Panke von der ETH Zürich definiert die Synthetische Biologie zum Beispiel als die Vereinigung von Ingenieurswissen mit gentechnischem Wissen. Es gehe vor allem um Standardisierung und Automatisierung in der Herstellung ‚biologischer Systeme’. Von ‚Lebewesen’ ist bei ihm nicht mehr die Rede. Und doch schwingt immer noch mit, dass Leben letztendlich vollständig beschreibbar – und irgendwann auch synthetisierbar sein wird.

Es werden im Wesentlichen drei Ansätze der Synthetischen Biologie unterschieden: das Chassis-Modell, das Lego-Modell und die Synthese von DNA-Sequenzen. Beim Chassis-Modell (oder Top-down-Ansatz) wird das Genom eines bestehenden Lebewesens auf ein Minimum reduziert, so dass es unter Laborbedingungen gerade noch überleben kann. In das reduzierte Genom werden dann gezielt synthetische Module eingebaut (wie in ein Autochassis), so dass das Lebewesen die gewünschten neuen Funktionen erfüllt. Das aber ist ‚extreme Gentechnik’, wie auch Venters Experiment; da wird kein Lebewesen synthetisiert.

Beim Lego-Modell (oder Bottom-up-Ansatz) werden wie bei einem Legobaukasten so genannte Biobricks zusammengesetzt, um neue Arten von Lebewesen zu erzeugen. Zuerst erfolgte die Zusammensetzung von DNA-Abschnitten, anschließend kämen schrittweise chemische Systeme dazu, bis ein vollständiges Lebewesen entsteht. Das wäre ‚Synthetische Biologie’ – aber davon sind wir meilenweit entfernt. Die Synthese von DNA-Sequenzen, sowohl bekannter als auch neu entworfener, wird in der Gentechnik schon eine ganze Weile praktiziert. Heute ist das vollautomatisiert. Es geht immer schneller und wird immer billiger.

Im Wortlaut „Synthetische Biologie“ klingt der Anspruch mit, neue Lebewesen zu synthetisieren (herzustellen). Was genau meinen diese Begriffe? Meint „synthetisieren“ (produzieren, kreieren) von Lebewesen, dass diese von Grund auf hergestellt werden? Dass also ein Lebewesen als Produkt synthetisiert werden kann? Ist es damit vergleichbar, wie ich im 3. Semester des Chemiestudiums im Fach „synthetische anorganische Chemie“ aus Ausgangsstoffen eine komplizierte chemische Substanz synthetisieren musste? Oder bedeutet „synthetisieren“ lediglich, dass mit der Technik der Synthetischen Biologie die notwendigen Bedingungen für Leben bereitgestellt werden? Das aber sei eine Verwechslung des Ergebnisses mit der Genese, schreibt der Basler Philosoph Andreas Brenner in seinem lesenswerten Buch „Leben. Eine philosophische Untersuchung“(5). Die Entstehung eines Lebewesens könne mit dem Vorliegen der sie ermöglichenden Merkmale nicht erklärt werden. Es erinnere an die ordinäre Redeweise mancher Paare, ein Kind „gemacht“ zu haben. Auch hier finde eine Verwechslung des Ergebnisses mit seiner Genese statt.

Meint „neu“, dass die Produkte ex nihilo, das heißt aus dem Nichts erschaffen wurden? Oder eher, dass sie „neuartig“ sind? Doch auch mit der Gentechnik werden neuartige Lebewesen geschaffen: Es gab in der Natur noch nie eine Maispflanze, die dank bakterieller Gene das Gift des Bakteriums Bacillus thuringiensis, das Bt-Toxin produziert.

Die wohl schwierigste Frage ist aber: Was ist ein Lebewesen? Ist ein Lebewesen eine Form materiellen Seins, das sich nur durch seine Komplexität von anderem materiellen Sein unterscheidet? Ist Leben wirklich nur „eine spezielle Art von Chemie“, wie das Steven A. Benner in einem Artikel im Nature 2003 beschrieb?(6) Oder ist es so, dass Lebewesen nicht ausschließlich erklärbar sind in Bezug auf ihre physikalischen und chemischen Eigenschaften? Gehört mehr dazu? Gibt es prinzipiell unbekannte Eigenschaften, die zum Leben gehören? Dann wäre es nicht möglich, Lebewesen in kontrollierbarer und berechenbarer Art und Weise herzustellen.

Leben ist mehr als die Summe der Gene

Diese Auffassung wird von vielen Lebens-Konzeptionen des zwanzigsten Jahrhunderts gestützt. Ein wichtiger Bezugspunkt ist dabei die Theorie der Autopoiesis, die in den sechziger Jahren von Humberto Maturana entwickelt wurde. „Auto“ heißt „selbst“, und „poiein“ bedeutet „machen“: Leben macht sich selbst, so Maturana. Leben hat die Kompetenz, sich selbst zu organisieren und zu entwerfen. Voraussetzung ist eine permanente Interaktion mit der Umgebung. Leben ist ein Prozess aus Kommunikation und Kognition. Laut der Theorie der Autopoiesis hat ein lebendiges System ein Selbst. Es kann nicht hergestellt werden, weil es sich selbst herstellt. Was Leben ist, versperrt sich einer Analyse „von außen“.

Dazu kommt: Lebewesen werden nicht durch ihre Gene determiniert. Gene sind zwar wichtig, doch weder Gene noch epigenetische Regelkreise determinieren das Geschehen. Zellen und Lebewesen sind komplexe, dynamische, sich entwickelnde und selbstorganisierende Systeme. Die Gene stehen im Dienst dieses größeren Ganzen.

Die Frage nach dem Wesen des Lebens ist eine der ältesten und wichtigsten Fragen sowohl in den Naturwissenschaften wie in der Philosophie. In einer Gesamtschau aller bisherigen Lebenstheorien erkennt Andreas Brenner zwei Hauptstränge. Auf der einen Seite finden sich mechanistisch-funktionale Modelle. Dabei erscheint Leben als eine Art Maschine, deren Wesen grundsätzlich verstanden werden kann, wenn erst einmal die wissenschaftlichen Instrumente zur exakten Untersuchung vorhanden sind. Descartes' Materialismus, die Anfänge der Gentechnik oder die Synthetische Biologie sind Beispiele dafür. Auf der anderen Seite stehen holistische Lebenstheorien, die davon ausgehen, dass allem Leben im Kern ein nicht erklärbares „Geheimnis“ innewohnt, was heute vielleicht als seine „ungeklärte Emergenz“ übersetzt werden kann. Dazu gehören die Autopoiesis, die Emergenztheorie, die Biosemiotik und die Kybernetik.(7)

Und wieder das Gendogma

Gegenüber diesen Theorien ist die Synthetische Biologie ein Riesenschritt zurück in die achtziger Jahre, als das simple Gendogma seinen Siegeszug feierte. Wir dachten, wir seien über diese reduktionistische Sichtweise hinweggekommen. Doch die Synthetische Biologie führt uns wieder mitten in sie hinein – mit allen Konsequenzen.

Synthetische Biologie scheint vor allem eine große PR-Offensive zu sein, ein unordentliches Konzept, das etwas radikal Neues suggeriert – ohne dies einzulösen. Es werden Milliarden in die ‚Synthetische Biologie’ investiert, zuvorderst von den großen Öl- und Agrarkonzernen. Die Risiken für Mensch und Umwelt sind wohl größer als die von der Gentechnik bisher bekannten, vor allem, wenn manipulierte Mikroorganismen freigesetzt werden sollen. Auch zeichnet sich jetzt schon ab, dass einige wenige Große das Geschäft beherrschen werden; der Sturm auf Patente hat längst eingesetzt.

In der Öffentlichkeit kaum diskutiert sind die ethischen Auswirkungen. Synthetische Biologie impliziert eine instrumentelle Sicht auf Leben, die von Wissenschaft und Industrie starken Rückenwind erhält. Diese Grundhaltung beeinflusst unsere Wahrnehmung anderer Lebewesen, unsere Haltung und Beziehung ihnen gegenüber und generell zum Leben. Sie verändert letztlich auch das Selbstbild des Menschen. Die Reflexion des Lebensbegriffes ist eine ethische Herausforderung, die wir keinesfalls Venter & Co. überlassen sollten.

Und vor allem sollten wir nicht in das gleiche Horn blasen. Wir sollten nicht vor den Schrecken „neu kreierter Superorganismen“ warnen, oder davor, dass nun der Mensch zum Homo creator mutiert sei. Damit stolpern wir doch selber in die Falle einer Gen-zentrierten und reduktionistischen Sicht auf das Leben!

In den achtziger Jahren hatte die Frauenbewegung eine breite ethische Diskussion um Machbarkeitsphantasien und Herrschaftsansprüche der damals noch jungen Gen- und Reproduktionstechnologien in Gang gebracht und das dahinter stehende Lebensbild in Frage gestellt. Es ist wieder einmal Zeit einzugreifen. Die Diskussion um die Synthetische Biologie sollte uns Anlass sein, die Auseinandersetzung darüber zu beginnen, was ein Lebewesen ist und ob ein solches hergestellt, kontrolliert und patentiert werden kann. Schließlich gilt auch in diesem Fall das Thomas-Theorem: Was die Wissenschaft als wirklich definiert, ist wirklich in seinen Konsequenzen.


Florianne Koechlin ist Biologin und Chemikerin. Sie ist Mitglied der Eidgenössischen Ethikkommission für Biotechnologie im Außerhumanbereich (EKAH), die sich drei Jahre lang mit der Synthetischen Biologie beschäftigt hat. Die Ergebnisse wurden im Mai 2010 in einem Bericht veröffentlicht, auf den sich die vorstehenden Ausführungen teilweise stützen.

EAKH (2010): Synthetische Biologie – Ethische Überlegungen. Der Bericht ist erhältlich über www.ekah.admin.ch (auf Deutsch, Französisch, Englisch und Italienisch).

Fußnoten:

(1) Vgl. „And man made life“, Economist, 20.05.10.
(2) Vgl. http://www.ethlife.ethz.ch/archive_articles/100526_venter_kuenstl_genom_per/index (27.5.10).
(3) ETC-Group (2007): Extreme Genetic Engineering: An Introduction to Synthetic Biology, News Release, 16.01.07, www.etcgroup.org/en/node/602 (01.12.10).
(4) Homo faber zum homo creator: Der Mensch als Techniker wird zum schöpferischen Hersteller des Lebens.
(5) Band 3, hg. v. EKAH, Bern 2007. Das Buch ist im Internet zum Herunterladen frei verfügbar.
(6) Benner, Steven A. (2003): Synthetic biology: Act natural, Nature 421, 118 (9 January2003), doi:10.1038/421118a.
(7) Vgl. Fn. 5.