Blauen Institut
Florianne Koechlin

Rheinauer Thesen zu Rechten von Pflanzen

Im Wissen darum, dass alle Lebewesen eine gemeinsame Herkunft haben,
in Erwägung, dass uns Pflanzen in ihrer Andersartigkeit letztlich immer ein Geheimnis bleiben werden,
im Bestreben, das Wesen der Pflanze tiefer zu ergründen und sie in ihrer Einzigartigkeit zu schützen,

formulieren wir die folgenden Thesen mit dem Ziel, die Pflanze um ihrer selbst willen zur Sprache zu bringen und Anspruchsrechte für sie geltend zu machen.

Die Pflanze

  1. Pflanzen sind Lebewesen.
  2. Pflanzen sind Tieren und Menschen verwandt. Alle haben wir unseren gemeinsamen Ursprung in einzelligen Lebewesen, die sich in einer fast drei Milliarden Jahre dauernden Evolution zu einer einzigartigen Vielfalt an Lebensformen differenziert haben.
  3. Die gemeinsame Geschichte führt zu vielen Übereinstimmungen auf der Zellebene.
  4. Doch Pflanzen sind zugleich anders als Tiere und Menschen. So sind sie etwa ortsgebunden und betreiben Photosynthese. Sie schaffen die Grundlage für die Ernährung von Tier und Mensch.
  5. Wir dürfen nicht der Versuchung erliegen, sie zu vermenschlichen. Pflanzen sind auch keine ‚langsamen’ oder ‚niedrigen’ Tiere, sondern eine eigene Lebensform.
  6. Wie alle Lebewesen reagieren Pflanzen auf ihre sich dauernd verändernde Umwelt. Sie kommunizieren miteinander und mit anderen Lebewesen, über und unter der Erde. Sie benützen dazu Duftstoffe und andere, vielfältige Signale. Ihr Wachstum und ihre Reaktionen auf die Umwelt sind keine ausschliesslich genetisch fixierten Reflexe. Pflanzen passen sich individuell an.
  7. Über die Empfindungsfähigkeit von Pflanzen wissen wir noch sehr wenig. Zell- und Molekularbiologie liefern zwar Indizien, die eine Empfindungsfähigkeit möglich erscheinen lassen; komplette Indizienketten fehlen aber bisher. Zu behaupten, Pflanzen hätten kein Empfindungsvermögen und könnten keine Schmerzen verspüren, ist so spekulativ wie die gegenteilige Behauptung.
  8. Weil wir nicht wissen, ob und wie Pflanzen Schmerzen empfinden, muss unser Umgang mit ihnen von Rücksicht geprägt sein.
  9. Auch Pflanzen sind Individuen.
  10. Pflanzen erleben die Welt auf ihre eigene Art. Sie haben ein Eigen-Sein. Sie leben als ein Selbst. Dieses Selbst ist für uns schwer verständlich. Dennoch erfahren wir, dass es existiert. Wenn Pflanzen als gänzlich verfügbare Objekte betrachtet und behandelt werden, so wird man ihnen damit nicht gerecht.

Pflanze und Umwelt

  1. Pflanzen sind standortgebunden. Sie stehen daher mit ihrer Umwelt in einer ganz anderen Beziehung als Tiere und Menschen. Sie können ihrer Umwelt nur sehr begrenzt ausweichen, fliehen können sie nicht.
  2. Pflanzen sind sehr anpassungsfähig. Sie stehen in einem permanenten Austausch mit der Umwelt. Sie leben in einem dynamischen Netz von Beziehungen und Wechselwirkungen, die sie weit mehr beeinflussen können als etwa Tiere.
  3. Offensichtlich zeichnen sich Pflanzen durch ein Hin- und Herpendeln zwischen einem Aufgehen in der Umwelt und einem Sich-Zurückziehen in sich selber aus, sowie durch ein rhythmisches Pulsieren in Jahreslauf und anderen zeitlichen Phasen. Sie zeichnen sich aus durch einzigartige Verbreitungsmöglichkeiten, die weite Distanzen und lange Zeiträume zu überwinden vermögen.
  4. Es ist deshalb unsere Pflicht, der Umwelt, von der die Pflanzen so stark abhängen und bestimmt werden, Sorge zu tragen.
  5. Dabei ist zu beachten, dass die Beziehungen zwischen Genen und Umwelt nicht eingleisig verlaufen. Umweltfaktoren können die Expression von Genen derart beeinflussen, dass neue Eigenschaften stabil vererbt werden, ohne DNA-Sequenzen zu verändern. Eine reduktionistische Sicht, die sich allein auf Gene konzentriert, ist fragwürdig. Dies mahnt zur Vorsicht bei der Züchtung.

Pflanze und Mensch

  1. Die menschliche Existenz hängt unmittelbar von Pflanzen ab. Viele Pflanzen können hingegen sehr gut ohne Menschen existieren.
  2. Das Verhältnis zwischen Pflanzen und Menschen ist kulturell und historisch geprägt und daher, wie alles Kulturelle, für Veränderungen offen.
  3. Pflanzen sind die Grundlage für unsere Ernährung. Insofern ist unsere Kultur von Pflanzen nicht zu trennen. Aus diesem Grund verdienen Pflanzen Achtung.
  4. Für das emotionale Leben der Menschen sind Pflanzen wichtig. Ihr Duft, ihre Schönheit, ihre Hege und Pflege liegen uns am Herzen. Sie prägen unsere Gärten und Landschaften.
  5. Wir müssen diese vielfältige Abhängigkeit und Verbundenheit der Menschen mit der Pflanzenwelt neu begreifen lernen. In Alltag und Kunst hat dies bereits begonnen. Auf naturwissenschaftlicher Ebene ist vieles noch nachzuholen.
  6. Welche Beziehungen wir mit Pflanzen eingehen, hat Bedeutung für unsere eigene Lebensweise. Wie wir mit Pflanzen umgehen, reflektiert unseren Umgang mit anderen Lebewesen und mit uns selbst. Der Wert, den wir Pflanzen zuweisen, hängt mit unserem Selbstentwurf zusammen.
  7. Wenn wir Pflanzen als Maschinen wahrnehmen, so sagt dies etwas über uns, die Betrachtenden, aus, nicht über das Wesen der Pflanze. Diese Maschinensicht dehnt sich auf alle Lebewesen – auch auf den Menschen – aus.
  8. Anders als beim Menschen fehlen im Umgang mit Pflanzen oft genug moralische Bedenken.
  9. Wir können das Wesen der Pflanze naturwissenschaftlich nicht vollständig erfassen. Erkenntnistheoretisch gibt es Grenzen. Wir stehen der Pflanze als ins Unermessliche Forschende gegenüber.
  10. Wenn wir der Pflanze als eigenständigem Wesen begegnen und uns auf sie einlassen, entwickeln wir Sensibilitäten und Fähigkeiten, die es uns erlauben, sie in ihrem Dasein tiefer zu verstehen. In ihr und durch sie erleben wir etwas Umfassendes.
  11. Unseren Umgang mit Pflanzen sollten nicht nur naturwissenschaftliche Argumente bestimmen. Die Naturwissenschaften sind nur ein Erkenntnisweg unter anderen, trotz ihrer Bedeutung für moderne Gesellschaften. Er ist nicht von vornherein wichtiger als andere Erkenntniswege.
  12. Unsere Beziehungen zu Pflanzen spielen sich auf verschiedenen Ebenen ab: auf der naturwissenschaftlichen, der geisteswissenschaftlichen, der künstlerischen, auf der spirituellen, der intuitiven, der religiösen, der emotionalen und auf der ästhetischen Ebene, und natürlich auf der Ebene der Ernährung. Diesen und weiteren Wissenszugängen gegenüber gilt es offen zu sein.
  13. Das neue Verständnis der Pflanze erfordert es, dass all diese Wissenszugänge anerkannt und genutzt werden.
  14. Pflanzen haben eine enorme Flexibilität und können sich an sehr viele Manipulationen anpassen. Sie vermitteln uns auf den ersten Blick keine offensichtlichen Signale, wo die Grenzen ihrer Verletzbarkeit sind. Umso wichtiger ist, dass wir diese Grenzen gemeinsam finden. Nichtwissen verpflichtet.

Gestützt auf diese Thesen, gelangen wir vorerst zur folgenden Aufstellung von

Anspruchsrechten der Pflanze

Wenn wir Pflanzen Anspruchsrechte zugestehen, dann heisst dies nicht, dass wir sie nicht mehr essen oder in anderer Weise verwenden dürfen. So wenig wie die den Tieren zugestandenen Rechte bedeuten, sie grundsätzlich aus dem Ernährungskreislauf auszuschliessen. Es bedeutet vielmehr, dass wir ihr Eigensein respektieren und dass es auch im Umgang mit Pflanzen Grenzen gibt.

  1. Recht auf Fortpflanzung
    Methoden und Strategien, die eine Sterilität bewirken, erfordern moralische und ethische Rechtfertigung. Die Terminatortechnologie und weitere Methoden zur Herstellung von Sterilität mit dem ausschliesslichen Zweck, Pflanzen für die Maximierung von wirtschaftlichem Gewinn verfügbar zu machen, verstossen gegen dieses Recht.
  2. Recht auf Eigenständigkeit
    Pflanzen sind keine Sachen. Sie sollen nicht beliebig instrumentalisiert und kontrolliert werden. Ihre Eigenständigkeit ist zu berücksichtigen.
  3. Recht auf Evolution
    Evolution, im speziellen die Anpassungsfähigkeit von Pflanzen an eine sich verändernde Umwelt, beruht auf genetischer Vielfalt. Wird diese eingeschränkt, beeinträchtigt dies auch die Fähigkeit sich zu entwickeln. Deshalb ist heute neben dem Schutz der Artenvielfalt auch der Schutz der genetischen Vielfalt zu einer Verpflichtung geworden.
  4. Recht auf Überleben der eigenen Art
    Der Schutz der vorhandenen Artenvielfalt und damit das Recht aller Pflanzenarten auf Überleben ergeben sich aus dem Wert der Biodiversität.
  5. Recht auf respektvolle Forschung und Entwicklung
    Dieses Recht erfordert, dass Forschung und Industrie in der Lage sein sollen, das Eigensein der Pflanze wahrzunehmen und ihm mit Achtung zu begegnen. Dies verlangt offene und interdisziplinäre Herangehensweisen. Es schliesst aus, dass Pflanzen als uneingeschränkt verfügbare Sachen gelten.
  6. Recht darauf, nicht patentiert zu werden
    Pflanzen sind keine Erfindungen. Keine Pflanze verdankt ihre Existenz allein menschlichem Wirken. Patente auf Pflanzen sind deshalb nicht nur aus sozioökonomischen Gründen abzulehnen, sondern auch um der Pflanzen selbst willen.

Die hier genannten Anspruchsrechte sind von Menschen formuliert worden. Sie gelten daher nur soweit sie im menschlichen Handeln beachtet, beziehungsweise durch dieses beeinträchtigt werden können. Denn niemand kann über sein Vermögen hinaus zu etwas verpflichtet werden.

Autorinnen und Autoren:

Florianne Koechlin, Projektinitiantin, Biologin, Blauen-Institut Basel, Autorin von ‚PflanzenPalaver’

Daniel Ammann, PD Dr., Geschäftsleiter der Schweizerischen Arbeitsgruppe Gentechnologie SAG

Eva Gelinsky, Dr., wissenschaftliche Mitarbeiterin von ProSpecieRara

Benny Haerlin, Leiter des Berliner Büros der Zukunftsstiftung Landwirtschaft und der Kampagne „Save Our Seeds“

Martin Ott, Meisterlandwirt, Gut Rheinau, CH, Präsident Stiftungsrat FiBL (Forschungsinstitut für biologischen Landbau, Frick)

Beat Sitter-Liver, Prof. für Praktische Philosophie, Universität Freiburg (CH)

Werner Stumpf, Dipl.-Ing., Institut für Garten-, Obst- und Weinbau der Universität für Bodenkultur Wien

Edgar Wagner, Pflanzenphysiologe, Prof. em., Albert-Ludwigs-Universität, Freiburg im Breisgau (D)

Amadeus Zschunke, Dipl.Ing. (FH) Gartenbau, Geschäftsführer Sativa Rheinau AG - ökologisches Pflanz- und Saatgut.

Unter Mitwirkung von:

Günter Altner, Prof. Dr. Dr. Dr. h.c., Biologe und Theologe

Nikolai Fuchs, Leiter Sektion für Landwirtschaft, Freie Hochschule für Geisteswissenschaft am Goetheanum, Dornach (CH)

Andrea Heistinger, Dipl.-Ing., Büro Semina-Kultur-Pflanzen-Konzepte, Schiltern (A)

Christian Hiss, Gärtnermeister, Eichstetten am Kaiserstuhl (D)

Markus Ritter, Biologe, Teilhaber LifeScience AG, Basel

Jürg Stöcklin, Prof. Dr., Botanisches Institut der Universität Basel